Abiturienten und ...
... andere wundersame Wesen
Ingo Althöfer,
mit Erweiterungen, zuletzt am 26. September 2022;
Seit einigen Jahren recherchiere ich zum Thema "Mathe in
Schüler-Erinnerungen und Abi-Zeitungen". Mehr als 800
Dokumente aus drei Jahrhunderten habe ich eingesehen.
Dabei habe ich nicht selten auch gelacht. Manches Fundstück
war auch schön, ohne mit Mathematik zu tun zu haben. Einige
Texte haben mich auch zum Nachdenken gebracht oder traurig gemacht.
Ein paar spezielle Elemente sind hier dargestellt.
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Innovative Neuerung für grosse Volksschul-Klassen!
Ein Lehrer im Zwei-Schichten-Betrieb
Aus dem Buch von Georg Hermann (1901): Die deutsche Karikatur
im 19. Jahrhundert
-
Gymnasium als Klippschule ?
Durch Zufall bin ich auf die sehr lesenswerten Memoiren des
Münsterländer Pfarrers Wilhelm Middeler (1935-2018)
gestossen. Er bezeichnet sich selbst als mittelmässigen Schüler,
hatte es aber faustdick hinter den Ohren. 1955 bestand er die
Reifeprüfung am Münsteraner Ratsgymnasium. Damals musste jeder
Abiturient einen Lebenslauf verfassen. Diese Gelegenheit nutzte
er, um seine Lehrer etwas aufzuziehen. Der folgende Absatz steht
oben auf S. 218 der Memoiren.
-
Eine Sammlung von Walter Kempowski
Kempowski war als Schriftsteller in den 1970er
und 1980er Jahren in Westdeutschland sehr populär.
1974 erschien sein Büchlein "Immer so durchgemogelt -
Erinnerungen an unsere Schulzeit". Nach Themen sortiert
enthält es ... Absätze und Abschnitte mit Aussagen von
befragten ersonen zu ihrer Schulzeit, wobei jedes Mal
das Geburtsjahr und der - meist - bürgerliche Beruf
angegeben sind.
In der folgenden kurzen Liste von Beispielen beziehen sich
die Seitennummern
auf die Taschenbuchausgabe im Fischer-Verlag von 1976.
* Nasen-Zeichen
Der Schüler wurde privat zu Hause unterrichtet.
Einmal musste er etwas vorlesen und konnte es
nicht. Da malte ihm die Hauslehrerin drei
Punkte auf die Nase und erklärte ihm, das geschehe,
damit der Vater es dann sehe.
Geboren 1936, S. 38
* Grundriss mit Bauch
Eine einklassige Volksschule: Der gute Lehrer liess
einmal die Schüler den Grundriss des Klassenraums
abzeichnen. Zum Schluss durften die Schüler auch
seinen dicken Bauch mit einzeichnen.
Geboren 1915, S. 47
* Getauft und gestempelt
Der Klassenlehrer war ein Original, sammelte Briefmarken und
züchtete Bienen. Als einige seiner
Schüler ins Gymnasium aufgenommen wurden, tauchte er
sie ins Waschbecken und "taufte" sie so. Anschliessend
stempelte er das mit Inflationsbriefmarken.
Geboren 1929, S. 71
* Disziplin beim Handball
Die Mädchen-Klasse musste mal einen Aufsatz über
Disziplin beim Handball schreiben. Und keiner in der Klasse
wusste, was Disziplin ist...
Geboren 1945, S. 104
* Quatsch im roten Faden
Den roten Faden (des Stoffs) mussten die Schüler runterschnurren.
Wer am schnellsten sprach, bekam eine Eins. Der Lehrer hörte
erst zu, wenn man stockte. Bis dahin konnte man allen möglichen
Quatsch sagen.
Geboren 1945, S. 137
* Sportliche Aufsicht I
Der Lehrer ging bei Klassenarbeiten auf und ab, die Hände
in den Taschen seines weissen Kittels, mit Turnschuhen. Wenn
er sah, dass einer mogelte, wischte er dem das Heft mit dem
Turnschuhfuss vom Tisch, und zwar ohne die Hände aus den
Taschen zu nehmen.
Geboren 1922, S. 155.
* Sportliche Aufsicht II
Die Mächen-Klasse hatte einen sehr kleinen
Englischlehrer. Bei den Klassenarbeiten ging er
von Tisch zu Tisch, um die Schüler
zu überwachen. Und zwar stieg er auf die Tische.
Geboren 1939, S. 177
* Immer frech
Der Schüler wurde später Fabrikant:
"Ich habe nie so viel dummes Zeug gemacht wie in der Schule,
und deshalb war das schön. Und bin immer gut dabei
rausgekommen. Ich war immer sehr frech und bin immer damit
durchgekommen. Und das habe ich dann im Leben auch immer angewandt."
Geboren 1924, S. 251
Das Büchlein gibt es nur noch antiquarisch.
Mir hat die Vielfalt darin sehr gefallen.
-
Gymnasiastenmutter
Luísa Costa Hölzl, in einem Jubiläumsbuch des
Wittelsbacher Gymnasiums in München
-
Grausame Schüler
Der Jubiläumsband eines humanistischen Gymnasiums
von 1958. Darin wurde auch eines Lehrers gedacht, der
1928 bei einem Eisenbahnunfall uns Leben gekommen war:
"Er ging in die Ewigkeit zu der Ruhe, die ihm
Schülergrausamkeit auf Erden so oft verwehrt
hatte."
-
Warten auf Archae, 1964
Schon vor dem verrückten Jahr 1968 bahnte sich eine
grosse Aufmüpfigkeit bei jungen Menschen an. Das
beschauliche lippische Städtchen Lemgo hatte zwei
Gymnasien, eines für die noch braven Mädchen (MWG),
und das andere für die exaltierteren Jungs (EKG).
Als 1964 die Abi-Klausuren und mündlichen Prüfungen
überstanden waren, gab es einen von drei EKG-Abiturienten
vorbereiteten Theaterabend. Titel des angekündigten Stückes:
Warten auf Archae. Der Saal war voll, der Vorgang ging auf.
Auf der Bühne hing eine einsame Glühlampe von der Decke und
leuchtete still vor sich hin.
Es passierte ... nichts.
Nach einiger Zeit wurde ein unreifer Sextaner unruhig; Erwachsene zischten
ihn zur Ruhe. Nach zehn Minuten schaute dann aber doch ein Lehrer hinter
die B&uumml;hne.
Er fand ... niemanden.
Die drei Macher hatten längst das
Weite gesucht und sassen in einer Kneipe beim Bier. Jetzt wurde
einigen Altsprachlern auch klar, was das Wort "Archae"
in der Ankündigung bedeutete. Archae = Anfang, also
"Warten auf den Anfang". Nichts anderes hatte das Publikum gemacht.
Der Skandal erschütterte das EKG und die alte Hansestadt in ihren
Grundfesten. Tagelang gab es kein anderes Gesprächsthema. Die drei
Burschen wurden von den offiziellen Abi-Feierlichkeiten ausgeschlossen
und bekamen die Zeugnisse mit der Post zugestellt. Einer der Drei wurde
später Theater-Intendant in Frankfurt.
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Lemgo 1968 und 1969
Am Lemgoer Mädchengymnasium, der Marianne-Weber-Schule,
nutzte 1968 eine Abiturientin die Feierrede zu einer
Art Generalabrechnung mit der Elterngeneration. Das
Erschrecken über diese mit mehr Wucht als Witz
vorgetragene Anklage spürte man noch ein Jahr später,
bei der Abifeier des Jahrgangs 1969.
Um einen Eindruck zu geben, ist hier ein Bericht aus der
Lippischen Rundschau vom 16. Juni 1969. Das Foto, was eine
Reihe der Abiturientinnen zeigt, habe ich absichtlich
verschwommen gemacht.
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Maria von Wedemeyer, 1948
Maria von Wedemeyer (1924-1977) war die Verlobte des
Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer (1906-1945).
Nach dem Krieg studierte sie Mathematik, zuerst in Göttingen,
und von 1948 bis 1950 am Bryn Mawr College in den USA.
Bei der Bewerbung für Bryn Mawr brauchte sie ein Gutachten eines
Göttinger Professors. Hierzu steht in Teil I der Lebenserinnerungen
von Hartmut von Hentig auf S. 261 oben: "Ihre eigenen Mathematikprofessoren
kannten sie nicht oder waren sonst ungeeignet, ein solches zu schreiben.
'Du kennst doch so viele Professoren hier ...' [bat sie von Hentig]. Ich
ging zu Hermann Heimpel [Ordinarius für Geschichte] und erläuterte die
Zumutung: 'Mit Geschichte hat sie nichts zu tun. Ihr Hauptfach ist Mathematik.
Trotzdem: Ich bitte Sie jetzt darum - hinterher werden Sie
selber sagen, dass es dieser Bitte gar nicht bedurft hätte.' Er empfing
Maria, unterhielt sich eine Stunde mit ihr und tat das Geforderte. Mir sagte
er hinterher augenzwinkernd: 'Hauptfach Mathematik? - Hauptfach Wille!' "
Frau von Wedemeyer bekam den Studienplatz (samt Stipendium) und schloss
ihren Master mit Hauptfach Mathematik 1950 erfolgreich ab. Später arbeitete
sie erfolgreich in der noch jungen Computerbranche.
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Der Münchner Friseur-Lehrling, 1911
In der Zeitschrift Simplicissimus gab es im Jahr 1911
einen kurzen Bericht über die Lehrlings-Prüfung
eines Friseur-Burschen. Der Junge hatte in seiner Gewerbeprüfung
fünf Einzelnoten bekommen: Eine 1 für das Haarschneiden, eine 1
für das Rasieren, eine 3 in Deutsch, eine 4 in Französisch und
eine 4 auch in Mathematik. Daraus machte die Prüfungskommission
insgesamt eine 3.
Der Bursche verstand die Welt nicht mehr, weil in seinen Augen
doch Frisieren und Rasieren die einzig wichtigen Fächer
waren. Arithmetisch hat die Gesamtnote 3 aber ihre Berechtigung:
1 + 1 + 3 + 4 + 4 = 13, und 13/5 = 2,6
was gerundet eine 3+ bedeutet. Ob der Junge mit der 3 eine
Anstellung gefunden hat?
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Rechenfibel für Monster-Klassen, 1834
Im 19-ten Jahrhundert war die schulische Versorgung der
Landbevölkerung noch nicht gut. Deutlich wird das auch durch
die Titelseite einer Rechenfibel für überfüllte
Klassen mit 100 bis 300 Schülern, aus dem Jahr 1834.
Die armen Lehrer !
1835 erschien von Friedrich Lüdeking ein
Lösungsbuch zu seiner Rechen-Fibel.
-
Russische Rechen-Maschinen, 1910
Fundstück in einem alten hessischen Lehrerkalender:
Gemeint sind damit Abakusse bzw. Abaki.
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Viertel-Meilen von Hörstmar nach Lage, 2021
Mit Bruchrechnung haben sich die Menschen in Lippe
wohl manchmal schwer getan. Noch heute gibt es an der
Bundesstrasse 66 zwischen Hörstmar und Lage alte Meilensteine:
zuerst einer mit Inschrift Drei-Viertel Meile, dann
Zwei-Viertel Meile,
dann Ein-Viertel Meile, und dann Ortseingang Lage.
An das Kürzen der Zwei-Viertel hatte sich wohl niemand
rangetraut ;-) Die Fotos wurden im Oktober 2021 gemacht.
Ich suche weiterhin ungewöhnliches Material zum Thema
"Mathe in Schüler-Erinnerungen und Abi-Zeitungen".
Wer etwas Spannendes zu haben meint, darf sich gerne per Email bei
ingo.althoeferABIuni-jena.de melden.
ABI ist durch das bekannte Symbol zu ersetzen.
Versicherung zum Datenschutz
Im Buch sind für alle Abi-Zeitungen nach 1940
alle Schüler-Namen, Lehrer-Namen, Schul-Namen und Ortsnamen
anonymisiert. Nur Jahreszahlen blieben. In Zweifelsfällen
war ich auch mit Jahreszahlen vorsichtig, ebenso mit Namen
von gewissen Ereignissen vor 1940.
Nach dem Lesen von so vielen Abi- und Schülerzeitungen
drängte sich mir auch die Fragestellung "Aggression
und Provokation in der Pubertät" auf. Ohne besondere
Hast sammle ich dazu Stoff - vielleicht wird irgendwann auch
ein Buchprojekt daraus. Das Projekt hat sich nach dem Lesen
des sehr guten Buchs "Warum sie so seltsam sind" von Barbara
Strauch erledigt.
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