Tiefes Loch in Langer Nacht

Jena, 29. November 2013


Mein FSU-Lehrstuhl ("Mathematische Optimierung") war wieder dabei, dieses Mal mit einem Weltrekord-Versuch: "Tiefstes Lego-Loch".

Zu Beginn eine Klarstellung: "LEGO" ist eine Marke von LEGO Juris A/S in Billund, Dänemark. Der Rekordversuch und diese Webseite sind von LEGO Juris weder gesponsert noch autorisiert noch unterstützt.


Alles fing vor ungefähr einem Jahr an. Im Internet fand ich die Liste der Lego-Weltrekorde, insbesondere auch die mit den höchsten Lego-Türmen. Nach und nach erfuhr ich, dass diese steilen Objekte nicht nur aus Lego-Steinen waren. Um es etwas überspitzt auszudrücken: Die Baustrategie besteht darin, ein stabiles Skelett aus Stahl oder anderem Metall zu bauen. Drum herum baut man dann Lego-Steine, bis von dem Skelett nichts mehr zu sehen ist. Ich wollte etwas anders probieren, nur mit Lego-Steinen.


Lego-Loch

Es sollte etwas ganz Schlankes werden, und es sollte nichts drin versteckt sein. Von der Bedingung war es nur noch ein kleiner Schritt bis zu einem Loch-Konzept.

Wenn man zusätzlich fordert, dass jede Schicht des Loches aus nur vier Steinen besteht, bleibt nicht mehr viel Auswahl. Das Bild zeigt einige Standard-Lösungen: mit 3x2-Steinen und Lochweite 1x1; 3x1-Steinen und Lochweite 2x2; 4x2-Steinen und Lochweite 2x2.




Ein Loch der Weite 1x1 wäre für meinen Geschmack zu eng gewesen. Ein erster Test mit 3x1-Steinen und Lochweite 2x2 ging schief: Der daraus gebaute Schacht fing bei einer Bauhöhe von etwa 4 Metern an, massiv auszubeulen. Er krachte zwar nicht ein, aber wir trauten uns nicht, auf die Weise mehr als 5 Meter zu realisieren.

So "endete" ich bei dem Ansatz mit 4x2-Steinen. Alte Lego-Steine haben oft eine reduzierte Klemmkraft. Um auf Nummer sicher zu gehen, setzte ich bei dem Versuch nur fabrikneue 4x2-Steine ein - was insgesamt Kosten von gut 500 Euro verursachte.



Das Loch sollte von aussen stabilisiert werden, und zwar möglichst einfach. Eine pragmatische Lösung ist der Bau in einem Gebäude, im Auge eines engen Treppenhauses. Zum einen ist man dadurch vor Wind und Wetter geschützt. Zum anderen kann das Loch leicht durch behutsame "Befestigungen" am Treppengeländer stabilisiert werden.




Zu Zeitpunkt diese Fotos war das Loch noch nicht ganz fertig. Aber bei mehr als 10 Metern waren wir da schon. Auf dem Bild erkennt man die Senkschnur, an der wir uns orientierten. Man sieht auch zwei der zwölf Klemmen (mit den roten Griffen), die an das Treppengeländer geschraubt waren, und die über schwarzes Klebeband das Lego stützten. Auf der Treppe warten helfende Studenten mit weiteren Segmenten für das Loch. Die Segmente waren in den Monaten und Wochen vorher vorgebaut worden und bestanden jeweils aus 60 (oder 58 oder 62) Schichten aus Lego-Steinen.




Links im Bild ist Dr. Hendrik Wöhl zu sehen. Er ist der stellvertretende Leiter der wissenschaftlichen Werkstätten in der Physik und trug wesentlichen zum Erfolg des Projektes bei. Im Nachhinein sehe ich es als Glücksfall, dass es in der Mathematik kein passendes Treppenhaus gab. Alleine mit Theoretikern hätten wir wohl kein 10-Meter-Loch hinbekommen. Dass am Ende alles so glatt lief und so einfach wirkte, passt zu dem alten Ingenieurs-Spruch "Technik in Vollendung ist unscheinbar".




Einige Helfer schauen etwas besorgt. Wird die Konstruktion stabil sein, insbesondere die letzten Segmente?




Ein Blick hinab in das Loch. Aber die unten eingestellte leuchtende Taschenlampe war nicht mehr zu sehen.




Das Foto gibt einen Eindruck von der Schlankheit des Lochs. Das untere Ende kann man hier nur ahnen. Das Loch bestand aus 1.203 Schichten und hatte eine Höhe von 11,56 Meter.




Das Gebilde war nicht ganz gerade - dazu sind die Produktionsabweichungen bei den Legosteinen einfach zu gross. Lego garantiert eine Genauigkeit von +- 0,02 mm in der Höhe bei einem 9,6-mm-Stein. Das hört sich beeindruckend an und ist es auch, vor allem im Vergleich mit Steinen anderer Hersteller. Über hunderte oder tausende von Schichten können sich aber kleine Abweichungen aufsummieren und zu Instabilitäten führen. Die Extrembeugung im Bild erzielte der Fotograf mit seinem Fischaugen-Objektiv.


Und dann kamen die Besucher. Eigentlich sollte die lange Nacht erst um 18:00 Uhr beginnen. Aber aufgeschreckt durch Ankündigungen in der Presse, dass das Legoloch aus Sicherheitsgründen nur bis 19 Uhr stehen würde, drängten die ersten Pulks von Erwachsenen und Kindern schon um 17:30 Uhr in das Treppenhaus. Da waren wir mit dem Aufbauen und den Kugel-Probewürfen gerade mal fertig.



Viele schauten und staunten einfach nur. Einige Erwachsene fotografierten von oben in den Schach oder auch direkt in das Loch.



Die Kinder waren aktiver und machten rege Gebrauch von der zur Verfügung gestellten Stahlkugel. Diese hatte gut 14 mm Durchmesser und liess sich damit bequem in das Loch mit seinen 16 mm lichter Weite fallen. Es war kein echter freier Fall, sondern die Kugel schlug wiederholt an den Seiten an und brauchte im Durchschnitt knapp 3 Sekunden für die etwa 11 Meter bis zum Beginn der Bremskammer. Unten, am offenen Boden des Lochs warteten dann schon die nächsten Freiwilligen, um die Kugel wieder die 70 Treppenstufen hochzutragen und erneut einzuwerfen, jedes Mal begleitet von dem Ankündigungsruf "Achtung, Kugel!".

Viele Male fiel die Kugel in das Loch: etwa 25 Mal in der Testphase direkt nach dem Aufbau, und dann weitere mehr als 100 Mal durch Besucher. Die ganze Zeit waren etliche Helfer über das ganze Treppenhaus verteilt, um eventuelle Unstabilitäten des Lochs rechtzeitig zu erkennen und auch, um vorwitzige Besucher davon abzuhalten, mal probehalber an dem filigranen Gebilde zu rütteln. Es ging aber alles glatt: Das Loch hielt ohne jede Nachjustierung, und die Schaulustigen waren auch sehr diszipliniert. Wegen des Massenandrangs und der entspannten Sicherheitslage bauten wir das Loch dann auch nicht um 19 Uhr ab, sondern liessen es bis etwa 20:30 Uhr stehen. Danach war das Team aber auch fix und fertig. Der Abbau selbst dauerte weniger als eine halbe Stunde. Die Lego-Steine wurden nicht ganz auseinander genommen, sondern wieder in Segmente von etwa 60 Schichten Höhe zerlegt.


Die Bremskammer

Wenn eine schwere Kugel von oben in einem sehr tiefen Loch herabsaust, schlägt sie unten mit ziemlicher Wucht auf. Wir wollten vermeiden, dass dieser Aufschlag wirklich erst direkt am Boden passiert, um den Untergrund zu schützen und um zu verhindern, dass die Kugel unkontrolliert aus der seitlichen Öffnung am Sockel herausspringt und vielleicht verloren geht. Dazu überlegten wir uns folgenden Brems-Mechanismus.




Weil das Loch nicht zu hundert Prozent senkrecht ist und etliche leichte Ausbeulungen hat, schlägt die Kugel zwischendurch mehrfach an Innenseiten an. Ungefähr 60 cm über dem Grund verbreiterten wir das Loch von 2x2 auf 4x4 Noppen. Fast immer nutzt die Kugel diesen breiteren Raum. Wenn das Loch dann etwa 30 cm später wieder auf 2x2 verengt wird, findet die noch schnelle Kugel diese Enge typischerweise nicht und schlägt mit Wucht auf einer der Kantenseiten auf. Dadurch wird sie fast auf Null gebremst und rutscht langsam und ungefährlich in den letzten Abschnitt des Lochs. Natürlich trifft die Kugel manchmal doch zufällig die 2x2-Enge und kommt dann ziemlich schnell ganz unten an. Das passierte in etwa fünf Prozent der Fälle. Idiotensicher ist die Bremskammer-Konstruktion also nicht...



Ein Blick in die Bremskammer mit ihrer 4x4-Weite.



Hier der offen gelegte Boden der Bremskammer. Man erkennt die Einschlagstellen der Kugel.



Die Bremsstellen der Kugel in Nahaufnahme.




Dank an ...


* Prof. Ernst Anders.
Im Januar 2013 war er der erste, mit dem ich das Konzept eines tiefen Legoloches diskutierte. Er wohnt in Jena im gleichen 9-Parteien-Haus wie ich. Damals wollte ich ein erstes Probeloch (geplante Höhe knapp 7 Meter) in unserem Treppenhaus errichten. Für eine kurze Zeit hielt ich ihn für einen "Bedenkenträger". Nach und nach wurde mir aber klar, dass er gewisse kritische Punkte (gerade auch die Einsturz-Gefahr) sehr realistisch gesehen hatte.

* Ben(R)
aus der deutschen AFoL-Szene. Bei einem Treffen im Sommer 2013 diskutierten wir verschiedene Aspekte von hohen Legotürmen und tiefen Legolöchern. Insbesondere brachte er die Idee ein, einen Indoor- Weltrekord (mit 40+ Metern) für einen höchsten Legoturm in einem Fahrstuhl-Schacht anzusteuern. Haupt-Vorteil des Schachtes wäre der Windgeschütztheit. In Jena gibt es einige geeignete Hochhäuser: der runde Turm mit seinen 100-Metern-Fahrstühlen und auch direkt gegenüber auf der anderen Strassenseite das Gebäude B66 von Jenoptik.

* Prof. Dr. Ralf Laue, Zwickau
Er führt die Lego-Weltrekordlisten im Internet und erklärte mir einige Hintergründe.

* Dr. Andreas Winnefeld und Dr. Hendrik Wöhl von den wissenschaftlichen Werkstätten der Fakultät für Physik, Astronomie und Technik
Herr Winnefeld als Leiter gab die prinzipielle Erlaubnis und schlug auch das "richtige" Treppenhaus vor. Vize-Chef Herr Wöhl war dann sehr kompetenter Helfer beim Aufbau, auch bei zwei technischen Proben. Bei der ersten gegen Ende Oktober klappte praktisch nichts; aber das war im Nachhinein auch gut so: aus den "Fehlern" lernten wir viele Details für den Ernstfall. Bei der zweiten Probe neun Tage vor dem Ereignis erreichten wir schon eine Höhe von etwa 10,4 Metern.

* Marlis Bärthel, Matthias Beckmann, Constantin Csato, Florian Fischer, Franziska Fischer, Juliane Geller, Michael Hartisch, Florian Krippendorf, Isabel Volkmann, Dr. Rico Walter
Sie alle waren Helfer beim Aufbau und der "Bewachung" am 29. November.

* FSU-Fotograf Jan-Peter Kasper
für die tollen Fotos.

* FSU-Pressesprecher Axel Burchardt
für das gute Marketing.

* Prof. Birgitta König-Riess
Sie ist die Dekanin unserer Fakultät für Mathematik und Informatik. Beim Smalltalk zwei Tage vor dem Ereignis hatte sie wesentliche Aspekte des Versuchs in wenigen Sekunden durchschaut. Als ich erklärte, dass viele Rekorde zu hohen Legotürmen nur durch die Stahl-Träger zustande gekommen waren, fragte sie ganz direkt: "Und was ist Ihr Trick?"

* Einge Monate vor der langen Nacht hatte ein Lego-"Statiker" aus Leipzig die Stabilitätsfrage für unproblematisch erklärt. Seine Prognosen erwiesen sich aber als nicht zutreffend, wie sich glücklicherweise schon bei der "Pannen"-Probe Ende Oktober herausstellte. So hatten wir genug Zeit zum Umdisponieren.


Update im März 2014

Unser Loch ist in der Liste der LEGO-Weltrekorde aufgeführt, wie es sich für ein Loch gehört, fast ganz unten.
Ich bin gespannt, ob oder wann sich andere Gruppen finden, die unser Legoloch überbieten. Ein Tipp: Mehrere Proben vor dem eigentlichen Ereignis sollten eingeplant werden, damit am Ende alles glatt aussieht und verläuft.



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