Abiturienten und ...
... andere wundersame Wesen
Ingo Althöfer,
Letzte Erweiterung am 12. November 2020;
Seit einigen Jahren recherchiere ich zum Thema "Mathe in
Abi-Zeitungen und ähnlichen Medien". Fast 500
Dokumente aus zwei Jahrhunderten habe ich inzwischen eingesehen.
Dabei habe ich nicht selten auch gelacht. Manches Fundstück
war auch schön, ohne mit Mathematik zu tun zu haben. Einige
Texte haben mich auch zum Nachdenken gebracht oder traurig gemacht.
Einige spezielle Elemente sind hier dargestellt. Es gibt immer mal
wieder Ergänzungen.
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Innovative Neuerung für grosse Volksschulklassen
Ein Lehrer im Zwei-Schichten-Betrieb
Aus dem Buch von Georg Hermann (1901): Die deutsche Karikatur
im 19. Jahrhundert
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Gymnasium als Klippschule ?
Durch Zufall bin ich auf die sehr lesenswerten Memoiren des
Münsterländer Pfarrers Wilhelm Middeler (1935-2018)
gestossen. Er bezeichnet sich selbst als mittelmässigen Schülers,
hatte es aber faustdick hinter den Ohren. 1955 bestand er die
Reifeprüfung am Münsteraner Ratsgymnasium. Damals musste jeder
Abiturient einen Lebenslauf verfassen. Diese Gelegenheit nutzte
er, um seine Lehrer etwas aufzuziehen. Der folgende Absatz steht
oben auf S. 218 der Memoiren.
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Heinz Sielmann: Glücklich ohne Mathe
Ich hatte gehofft, im Buch "Mein Weg zu den Tieren" von
Heinz Sielmann (1917-2006) etwas zu seiner Schulmathematik zu
finden. Da war aber Fehlanzeige. Es hiess nur auf S. 18,
seine guten Leistungen in Sport und Biologie hätten
bemerkenswerte Mängel in anderen Fächern
nicht ausgleichen können. Trotzdem schaffte Sielmann 1938
das Abitur in Königsberg.
Unverhofft ging es an einer anderen Stelle im Buch um
ein Rechenproblem. Um bestimmte Vögel aus der Nähe
filmen zu können, baute Sielmann einen Unterstand. Die Vögel
konnten nicht zählen. Wenn also zwei Menschen in den Verschlag
gingen und bald danach einer wieder heraus kam, so war nach
Meinung der Vögel die Störung ganz verschwunden.
Sielmann fand immer einen Mitschüler, der die Rolle der
Begleitperson übernahm. Achtung: Bei Raben geht es nicht
so einfach. Die können bis vier zählen, besonders
intelligent Exemplare sogar bis füf!
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Heftig
Eine Abi-Zeitung aus der Provinz, aus der
Mitte der 1990er Jahre. Knapp 150 Seiten, die
meisten Beiträge sehr freundlich; man
spürt Empathie mit den Lehrern. Aber dann
mittendrin ein 5-Seiten-Bericht über eine
fiktive Hans-Meiser-Talkshow:
Drei Sportlehrerinnen der Schule sind zu Gast
und erzählen, wie sie den Schülern das
Leben schwer machen.
Ich stelle mir gerade vor, wie diese Abizeitung direkt
vor der Entlassfeier verteilt wurde und schon während
der Feier durchgeblättert wurde ...
Der Schulleiter hatte vielleicht etwas geahnt. Er schrieb ganz
vorne in der Zeitung: "Wie soll ich ein Vorwort für etwas schreiben,
das ich gar nicht kenne? Denn wir als Lehrer wissen gar nicht,
wie ihre 'Abrechnung' mit uns und Ihrer Schule ausfallen wird."
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Betende Hände ?
Denkende Hände !
In einer fränkischen Abizeitung aus dem Jahr 1968
fand sich dieses Kunstfoto.
Ich interpretiere das Foto als Gegen-Entwurf zu den "Betenden
Händen" von Albrecht Dürer (Nürnberg, 16. Jahrhundert).
Ob es auch so gemeint war?
Den Fotografen habe ich trotz etlicher Mühen nicht ermitteln
können. Klassenkameraden sind aber der Meinung, ein Zeigen des
Kunstfotos nach 50 Jahren dürfte kein Problem sein.
Falls doch, möge sich der Fotograf bitte bei mir melden. Wir werden
dann eine einvernehmliche Lösung finden.
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Grausame Schüler
Der Jubiläumsband eines humanistischen Gymnasiums
von 1958. Darin wurde auch eines Lehrers gedacht, der
1928 bei einem Eisenbahnunfall uns Leben gekommen war:
"Er ging in die Ewigkeit zu der Ruhe, die ihm
Schülergrausamkeit auf Erden so oft verwehrt
hatte."
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Tolle Titelseiten
Manche Titelseiten und Titelnamen sind wirklich einfallsreich,
etwa diese Abschlusszeitung einer Einjährigen-Klasse (10. Klasse,
mittlere Reife) aus den späten 1950er Jahren.
Mit ins Foto genommen habe ich meinen alten Tafel-Abzieher, den mir Mitstudenten
an der Uni Bielefeld 1984 geschenkt hatten. Er ist - auch in Jena - immer noch
in Benutzung. Viele Mathematiker haben ein Faible für ordentlich gewischte Tafeln.
Einige machen es immer selbst, auch um Schüler davor zu bewahren,
Zeitschinderei beim Wischen zu versuchen. Andere setzen ein strenges Regiment auf,
mit genauer Festlegung, welcher Schüler wann wischen muss. Noch andere sind
scheinbar harmlos: Wenn kein Schüler bereit ist, zu wischen, wird einfach in
einer anderen Farbe über das schon Stehende drüber geschrieben.
Ich selbst habe mal Ergebnisse meiner Tafelwischungen mit der
Kamera festgehalten und interpretiert. Siehe
hier.
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Warten auf Archae, 1964
Schon vor dem verrückten Jahr 1968 bahnte sich eine
grosse Aufmüpfigkeit bei jungen Menschen an. Das
beschauliche lippische Städtchen Lemgo hatte zwei
Gymnasien, eines für die noch braven Mädchen (MWG),
und das andere für die exaltierteren Jungs (EKG).
Als 1964 die Abi-Klausuren und mündlichen Prüfungen
überstanden waren, gab es einen von drei EKG-Abiturienten
vorbereiteten Theaterabend. Titel des angekündigten Stückes:
Warten auf Archae. Der Saal war voll, der Vorgang ging auf.
Auf der Bühne hing eine einsame Glühlampe von der Decke und
leuchtete still vor sich hin.
Es passierte ... nichts.
Nach einiger Zeit wurde ein unreifer Sextaner unruhig; Erwachsene zischten
ihn zur Ruhe. Nach zehn Minuten schaute dann aber doch ein Lehrer hinter
die B&uumml;hne.
Er fand ... niemanden.
Die drei Macher hatten längst das
Weite gesucht und sassen in einer Kneipe beim Bier. Jetzt wurde
einigen Altsprachlern auch klar, was das Wort "Archae"
in der Ankündigung bedeutete. Archae = Anfang, also
"Warten auf den Anfang". Nichts anderes hatte das Publikum gemacht.
Der Skandal erschütterte das EKG und die alte Hansestadt in ihren
Grundfesten. Tagelang gab es kein anderes Gesprächsthema. Die drei
Burschen wurden von den offiziellen Abi-Feierlichkeiten ausgeschlossen
und bekamen die Zeugnisse mit der Post zugestellt. Einer der Drei wurde
später Theater-Intendant in Frankfurt.
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Lemgo 1968 und 1969
Am Lemgoer Mädchengymnasium, der Marianne-Weber-Schule,
nutzte 1968 eine Abiturientin die Feierrede zu einer
Art Generalabrechnung mit der Elterngeneration. Das
Erschrecken über diese mit mehr Wucht als Witz
vorgetragene Anklage spürte man noch ein Jahr später,
bei der Abifeier des Jahrgangs 1969.
Um einen Eindruck zu geben, ist hier ein Bericht aus der
Lippischen Rundschau vom 16. Juni 1969. Das Foto, was eine
Reihe der Abiturientinnen zeigt, habe ich absichtlich
verschwommen gemacht.
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Maria von Wedemeyer, 1948
Maria von Wedemeyer (1924-1977) war die Verlobte des
Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer (1906-1945).
Nach dem Krieg studierte sie Mathematik, zuerst in Göttingen,
und von 1948 bis 1950 am Bryn Mawr College in den USA.
Bei der Bewerbung für Bryn Mawr brauchte sie ein Gutachten eines
Göttinger Professors. Hierzu steht in Teil I der Lebenserinnerungen
von Hartmut von Hentig auf S. 261 oben: "Ihre eigenen Mathematikprofessoren
kannten sie nicht oder waren sonst ungeeignet, ein solches zu schreiben.
'Du kennst doch so viele Professoren hier ...' [bat sie von Hentig]. Ich
ging zu Hermann Heimpel [Ordinarius für Geschichte] und erläuterte die
Zumutung: 'Mit Geschichte hat sie nichts zu tun. Ihr Hauptfach ist Mathematik.
Trotzdem: Ich bitte Sie jetzt darum - hinterher werden Sie
selber sagen, dass es dieser Bitte gar nicht bedurft hätte.' Er empfing
Maria, unterhielt sich eine Stunde mit ihr und tat das Geforderte. Mir sagte
er hinterher augenzwinkernd: 'Hauptfach Mathematik? - Hauptfach Wille!' "
Frau von Wedemeyer bekam den Studienplatz (samt Stipendium) und schloss
ihren Master mit Hauptfach Mathematik 1950 erfolgreich ab. Später arbeitete
sie erfolgreich in der noch jungen Computerbranche.
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Entbindung, 1990
Aus einer Abi-Zeitung von 1990, in der Rubrik "Sprüche".
Lehrerin: Im Mai liegt mein Entbindungstermin.
Ein Schüler entsetzt: Entbindung ?!!!
Lehrerin: Wie, wusstest Du nicht, dass Du Vater wirst?
Kurze Pause
Eine Schülerin zu dem armen Bub: Und dann nur 5 Punkte? Musst Du
schlecht gewesen sein!
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Paul Klee, 1898
Paul Klee und ein Mitschüler brachten eine 4-seitige
Zeitung zu ihrem Abitur 1898 in Bern heraus. Auf den
Blättern offenbarte
sich noch nicht der spätere Kunst-Superstar.
Aber zwischen den Zeilen spürt man schon das Genie.
Details werden hier nicht verraten, aber zwei Abschnitte
gezeigt: Die Titelzeile und eine Signatur in Geheimschrift.
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Der Münchner Friseur-Lehrling, 1911
In der Zeitschrift Simplicissimus gab es im Jahr 1911
einen kurzen Bericht über die Lehrlings-Prüfung
eines Friseur-Burschen. Der Junge hatte in seiner Gewerbeprüfung
fünf Einzelnoten bekommen: Eine 1 für das Haarschneiden, eine 1
für das Rasieren, eine 3 in Deutsch, eine 4 in Französisch und
eine 4 auch in Mathematik. Daraus machte die Prüfungskommission
insgesamt eine 3.
Der Bursche verstand die Welt nicht mehr, weil in seinen Augen
doch Frisieren und Rasieren die einzig wichtigen Fächer
waren. Arithmetisch hat die Gesamtnote 3 aber ihre Berechtigung:
1 + 1 + 3 + 4 + 4 = 13, und 13/5 = 2,6
was gerundet eine 3+ bedeutet. Ob der Junge mit der 3 eine
Anstellung gefunden hat?
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Opel Kadett Coupe, 1966
Im Sommer 1966 fand sich in der Schülerzeitung eines
Mädchengymnasiums (!) die folgende ganzseitige Anzeige.
Zu gerne würde ich wissen, ob sich damals eine der
Abiturientinnen wirklich diesen Schlitten gekauft hat.
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Rechenfibel für Monster-Klassen, 1834
Im 19-ten Jahrhundert war die schulische Versorgung der
Landbevölkerung noch nicht gut. Deutlich wird das auch durch
die Titelseite einer Rechenfibel für überfüllte
Klassen mit 100 bis 300 Schülern, aus dem Jahr 1834.
Die armen Lehrer !
Ich suche weiterhin ungewöhnliches Material für ein geplantes
Buch "Mathe in Abi-Zeitungen".
Wer etwas Spannendes zu haben meint, darf sich gerne per Email bei
ingo.althoeferABIuni-jena.de melden.
Alle Personen, deren Beiträge ins Buch kommen, erhalten ein
Frei-Exemplar des Buchs. ABI ist durch das bekannte Symbol zu
ersetzen.
Versicherung zum Datenschutz
Im geplanten Buch werden für alle Abi-Zeitungen nach 1940
alle Schüler-Namen, Lehrer-Namen, Schul-Namen und Ortsnamen
anonymisiert. Nur Jahreszahlen bleiben. In Zweifelsfällen
werde ich auch mit Jahreszahlen vorsichtig sein, ebenso mit Namen
von Ereignissen vor 1940.
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